Plötzlich Christbaumverkäufer

Winter forest
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Leah sitzt in ihrem kleinen Buchladen an der Ecke und dekoriert gerade das Schaufenster weihnachtlich. Draußen bläst ein kalter Wind die Regentropfen an die eigentlich frisch geputzten Scheiben und der Himmel wird noch düsterer wie die letzten Tage. Es ist ein klassischer Novembertag, an dem es morgens grau ist, zum Mittagessen noch immer grau ist, nur abends zum Feierabend ist es anders – da ist es bereits ganz dunkel. Eigentlich müsste sie langsam ihre traditionelle jährliche Weihnachtsgeschichte schreiben, wenn sie sie in diesem Jahr noch verkaufen will. Ihr fällt nur einfach nichts ein und sie dekoriert das Schaufenster nun schon zum zweiten Mal in dieser Woche um, um eine Ausrede zu haben, sich nicht wieder an den Schreibtisch zu setzen. Auch die hübsch aufgemachten Bücher mit Weihnachtsgeschichten für Kinder haben schon wieder einen neuen Platz. Gedankenverloren hängte sie gerade einen beleuchteten Schneemann ins Schaufenster, als sie im Augenwinkel sah, wie sich eine Mama mit ihrem Sohn beeilten schnell durch den Regen vom Geschäft gegenüber in ihren Laden zu kommen. Während die Frau ihren Regenschirm ausschüttelte und dann die Tür zuzog, um den Wind auszusperren, kletterte Leah aus ihrem Schaufenster und hätte beinahe den großen Deko-Nikolaus umgestoßen, dessen Bauch einfach viel zu groß für ihn ist. Der kleine Junge stürmte bereits auf den Tisch mit Kinderbüchern zu und wieder kam ihr in Gedanken die Frage auf, wie denn die anderen Autoren immer auf ihre kreativen Buchideen kommen.


Sie begrüßte die beiden: »Hallo, kann ich Euch weiterhelfen?«, worauf die Mama mit einem Lächeln entgegnete: »Hallo, ich glaube, Lucas hat bereits gefunden, wonach er gesucht hat. Im Kindergarten reißen sich gerade alle um dieses Buch, da ihnen die Geschichte und die unglaublich schön gemalten Bilder so gut gefallen.« – »Das freut mich«, antwortete Leah mit nun einem leicht sarkastischen Lächeln, das niemand bemerkte, kassierte und verabschiedete die beiden. Sie stand nun wieder allein da und musste sich nochmal dieses Buch anschauen, was der kleine Lucas soeben haben wollte. Was genau war so besonders daran? Sie nahm das Buch in die Hand und blätterte langsam die dicken Seiten durch, auf denen wunderschöne Bilder eines verschneiten Zoos mit verschiedensten Tieren in Mütze und Schal eingemummelt zu sehen waren. Sie legte das Buch wieder auf den Stapel, als ihr Mann Marko klatschnass die Tür hereinstürmt. »Was ein hässliches Novemberwetter ist das eigentlich?!«, beschwerte er sich, während er die tropfende Jacke an den Kleiderständer hing. »Auf dem Weg habe ich im Radio gehört, dass es heute Nacht noch stürmen soll. Gut, dass morgen Samstag ist, dann können wir nach Feierabend in unserem Wald gleich nachschauen, ob irgendwas passiert ist.«, meinte er, bevor er Leah einen Begrüßungskuss gab. Gemeinsam dekorierten sie das angefangene Schaufenster zu Ende und machten sich im Dunklen bei mittlerweile sehr stürmischem und regnerischem Wetter auf den Weg nachhause.


Der Samstag war angebrochen, der Regen war vom Sturm in der Nacht davongeblasen worden und Marko öffnete die Rollläden. »Die im Radio haben wohl nicht gelogen, als sie über den Sturm gesprochen haben.«, meinte er verwundert, als er die nächsten Rollläden öffnete. »Überall liegen abgebrochene Ästchen auf dem Gehweg und kein einziger Baum konnte auch nur ein einziges Blatt festhalten. Ich glaube, ich mach mich lieber gleich nach dem Frühstück auf in den Wald. Kommst Du nach, sobald Du Feierabend hast, Schatz?« Verschlafen entgegnete Leah: »Ja, das wird wohl das beste sein.«, und gähnte ausgiebig, während sie sich streckte und rekelte und dann auch aus dem Bett kroch.


Nach dem Frühstück brachte Marko Leah mit dem Auto zu ihrem Buchladen, verabschiedete sich mit einem Kuss von ihr und fuhr in Richtung Kustenfelder Forst, wo auch ihr kleines Stückchen Wald liegt. Bereits auf dem Weg sah er den ein oder anderen umgefallenen Baum und hatte ein ganz mieses Gefühl, als er das Auto abstellte.


Ein kurzer Fußmarsch über weitere abgebrochene Äste, die hier aber viel größer waren als in der Stadt, führte Marko zum Waldstück an einem kleinen Hang. Auf den ersten Blick sah alles ganz friedlich aus, die Vöglein zwitscherten fröhlich und ein Eichhörnchen lief über den Weg, das einen ganzen Baum von Nüssen befreit haben muss, so voll sahen seine Backen aus. Er lächelte und sein Blick schweifte erneut über das Waldstück. Plötzlich sah er doch einen umgestürzten Baum, der so in den dichten Tannenwald gefallen ist, dass er ihn fast übersehen hatte und sein Lächeln verschwand kurzzeitig. »Verdammter Mist«, rutschte ihm raus, als er sich durch den Matsch auf den Weg zu dem umgestürzten Baum machte.


Am Baum angekommen sah er, dass die Tannen einfach viel zu dicht stehen, um den Baum klein zu sägen. »Eigentlich müsste man hier …«, dachte er gerade laut, als sein Handy klingelte. »Huhu Schatz, ich hab gerade mit dem Nachbarn Karl gesprochen und ihm beiläufig von unserem Waldstück erzählt. Er würde uns heute Nachmittag helfen, wenn es etwas zu tun gibt?«, meinte Leah. »Leider haben wir etwas zu tun, ja. Ein Baum vom Rand des Tannenwäldchens ist umgefallen und liegt jetzt mittendrin. Wir müssen ein paar Tännchen umschneiden, damit wir den großen Baum klein machen können. Wenn er möchte, kann er gerne mithelfen. Ich glaube, wir können jede helfende Hand gebrauchen, da ein Teil des Baums auf den Weg ragt.«


Nachmittags, als Marko bereits den Teil des Baums, der auf den Weg herausgeragt hat, kleingesägt hatte, kamen Leah und Karl an. Beide in Arbeitsklamotten, mit Sägen und Handschuhen ausgerüstet und Leah trug noch einen großen Picknickkorb. »Gut, dass ihr kommt! Wenn nur die Hälfte der Leute, die mich heute beim Spazierengehen gefragt haben, ob sie helfen können, in einer Stunde da sind, haben wir bald nichts mehr zu tun.«, begrüßte Marko die beiden mit einem Lachen. »Oh, das wäre ja perfekt!«, meinte Leah und gab ihrem Mann einen Kuss zur Begrüßung. »Dann trifft es sich ja gut, dass ich auf dem Weg hier her noch frischen Stollen gekauft und reichlich heißen Glühwein in der Thermoskanne dabei hab!«


Und tatsächlich, keine halbe Stunde später hörte man bereits eine ganze Weile leise Musik, die immer lauter wurde, bis zwei der Spaziergänger gemeinsam den Waldweg entlanggelaufen kamen. Der eine trug ein akkubetriebenes Baustellenradio, während der andere Sägen und Handschuhe in einer uralten Holzschubkarre vor sich her schob. Lächelnd gesellten sie sich zu Leah, Marko und Karl, die gerade bei einer Tasse Glühwein neben vier schon gefällten Tannenbäumchen Pause machten. »Ihr seid ja cool!«, begrüßte Marko die beiden und Leah bot ihnen zur Begrüßung gleich eine Tasse Glühwein an. Als der eine Spaziergänger, der sich als Philipp vorstellte, seinen Blick über das Wäldchen schweifen ließ, blieb er an den gefällten Tannenbäumchen am Wegrand hängen. »Was macht ihr denn mit all den Tannenbäumen?«, wollte er wissen und trank einen Schluck heißen Glühwein. »Naja, ehrlich gesagt, wissen wir es noch nicht. Wir wollten jetzt erstmal den Baum da rausholen.«, entgegnete Leah und zeigte auf den umgefallenen Baum. »Verkaufst Du mir einen davon?«, wollte Philipp neugierig wissen. »Der hier vorne gefällt mir nämlich echt gut und wir haben noch keinen Weihnachtsbaum.«, meinte er, während er auf den Baum an der Ecke zuging und ihn fachmännisch begutachtete. »Kannst Dir gerne mitnehmen als kleines Dankeschön für Deine Hilfe.«, antwortete Marko schulterzuckend. »Du kannst Dir aber auch gerne einen anderen aussuchen, wir haben noch ein paar, die wegmüssen.«, ergänzte Leah. »Dürfte ich mir auch einen aussuchen?«, fragte Elias, der zweite Spaziergänger, der gerade das Radio abstellte und zu Philipp marschierte. »Natürlich, ihr könnt Euch alle einen mitnehmen.«, bestätigte Marko und sah auch zu Karl, der dankend nickte. »Ihr könnt gerne auch Euren Freunden Bescheid geben, dass wir hier diverse Tannenbäume haben. Vielleicht will jemand einen davon, dann haben wir sie nicht umsonst abgesägt.«, sagte Leah zu Philipp und Elias, während sie sich mit Karl und Marko langsam wieder in das Tannenwäldchen begab, um weiterzuarbeiten.


Später am Nachmittag glich der Tannenwald eher einem Verkauf von Christbäumen, wie einer Aufräumaktion nach dem Sturm. Marko war primär damit beschäftigt, die geschlagenen Christbäume an die zahlreichen Spaziergänger zu verkaufen, die mittlerweile schon mit Schubkarren anrückten, um die Bäume auch heil nachhause zu bringen und sie nicht schleppen zu müssen. Karl beaufsichtigte inzwischen das Fällen der Tannenbäume entlang des umgestürzten Baums. In der Mitte des Tannenwäldchens entstand bereits eine kleine Lichtung, da langsam die Äste des großen, umgestürzten Baums wichen. Leah war kurzzeitig mit dem Auto beim Einkaufen und hat für Nachschub an Glühwein und Stollen gesorgt. Auch die leckeren Plätzchen der Großeltern durften natürlich nicht fehlen! Sie ergriff sogleich die Chance und stellte auf der immer größer werdenden, aber dennoch kleinen und gemütlichen Lichtung einen Tisch auf. Somit gab es nun auch einen kleinen Glühwein- und Plätzchenstand. Zwischenzeitlich hörte Leah hinter ihrem Tischchen ein Kind flüstern: »Oma, Oma, ist das da der Nikolaus?« und deutete auf Karl. Lächelnd antwortete seine Oma: »Das kann schon sein, man weiß ja nie.«, und zwinkerte mir zu.


Als der umgestürzte Baum spätabends entfernt und der letzte Tannenbaum verkauft wurde, begegneten sich die Blicke von Leah und Marko. Marko seufzte zufrieden: »Das war ein anstrengenderer Tag als ich erwartet hatte.« – »Definitiv Schatz, vor allem hätte ich nie erwartet, dass sich die Leute so nach den Tannenbäumen reißen!«, antwortete auch sie erleichtert, während sie die letzten Glühweintassen zurück in den Korb räumte. »Ich fürchte nur, dass wir nächstes Jahr wieder ein paar Tannen pflanzen dürfen, wenn wir im Geschäft bleiben wollen.«, meinte Marko verschmitzt und sah sich in der mittlerweile doch ziemlich großen Lichtung des Waldstücks um. »Vielleicht wollten auch ein paar unserer diesjährigen Christbaumkäufer künftig einen Baum ausleihen und wir könnten eine Christbaummiete anbieten …«, antwortete Leah daraufhin leicht nachdenklich und ließ den Blick ebenfalls über die Lichtung schweifen. »Irgendwie tun mir die ganzen Tannen leid, die wir gefällt haben.«, ergänzte sie mit einem Anflug an Traurigkeit. – »Mhm«, begann Marko laut nachzudenken: »da hast Du durchaus Recht, ja. Vielleicht könnten wir sogar über eine Baumpatenschaft nachdenken und jeder darf seinen Baum selbst aussuchen und pflegen. Aber jetzt fahren wir erstmal heim, bevor wir hier noch einfrieren.«


Gemeinsam trugen sie die letzten Sachen in ihr Auto. Karl ist bereits vor einer halben Stunde mit Teilen des zersägten großen Baums aufgebrochen, das er zuhause zu Brennholz verarbeiten wollte. Bevor auch sie sich auf den Heimweg machten, prüfte Marko nochmal die Gurte für den Weihnachtsbaum auf dem Dach und Leah vergewisserte sich, dass auch ja kein Holzstück aus dem Anhänger entkommen konnte. Als sie dann endlich im Auto saßen, sahen sie sich an und Marko meinte grinsend: »Und Du hast wirklich keine Idee, über was Du dieses Jahr Deine Weihnachtsgeschichte schreiben willst?«


Schöne Weihnachten und ich hoffe, auch Du hast einen schönen Weihnachtsbaum gefunden.


Eine Weihnachtsgeschichte von Dominik Auracher, Dezember 2021
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